Dienstag, 23. Juli 2013

Das Kino der Deformation



Es gibt mehrere Gründe, warum das Kino der Deformation das aufregendste ist, was man mit dem Medium Film machen kann, vielleicht sogar das einzige sein muss, was man mit dem Medium Film, wenn man es nicht als industrielle Massenware betrachtet, tun sollte. Bruno Dumont verwendet diesen Begriff in mehreren Interviews, um zu beschreiben wie er Regie führt. Für ihn besteht die Aufgabe einer Kunst darin zu deformieren. Man nimmt einen naturalistischen Gegenstand/Schauspieler, setzt ihn in ein naturalistisches Setting und sorgt dann für kleinere oder größere Deformierungen. Somit wird die menschliche Existenz hinterfragt oder die Natur als ganze und der Zuseher kommt in einen Denkprozess. Ob dieser verstörend, belastend oder voller Erkenntnisse ist, darf meiner Meinung nach keine Rolle spielen. Es geht nur darum einen Konflikt im Rezipienten zu verursachen, ihn auszuliefern, ihm entgegenzuwirken, ihn zu bearbeiten, ihn arbeiten zu lassen. Auf keinen Fall geht es darum glücklich das Kino zu verlassen. (Obwohl es das auch geben soll.) 

L'humanité von Bruno Dumont

Dumont sagt, dass er dafür an die Grenzen gehen muss als Filmemacher. Und um an die Grenzen zu gehen, müsse man immer etwas darüber hinausgehen. In der Dokumentation „Das Schöne ist mein Dämon“ beschreibt Dumont exemplarisch eine Szene und wie er dort eine subtile Deformation herstellen konnte. Es geht um die Szene in seinem „L’humanité“, in der der Protagonist ein Paar beim Sex auf dem Boden beobachtet. Um einen deformierten oder nennen wir es entfremdeten Ausdruck zu bekommen, hat Dumont den Schauspieler nicht ein Pärchen auf dem Boden beobachten lassen, er hat dem Schauspieler auch nicht gesagt, dass er sich ein Pärchen auf dem Boden vorstellen soll, sondern er hat seine eigene Hand auf den Boden gelegt und gesagt: „Schau meine Hand an.“; die Reaktion ist selbstverständlich unerwartet und deformiert. Ein Prozess beginnt, wenn man nun die Reaktion des Mannes auf das Pärchen im Film sieht. Etwas stimmt nicht, aber man kann es nicht greifen. Damit verkehrt Dumont die russischen Montagetheoretiker in ihr Gegenteil. Wo Lew Kuleschow gezeigt hat, dass die immer gleiche Reaktion eines Mannes assoziiert mit unterschiedlichen Bildern im Zuseher immer eine dem Gegenstand entsprechende Reaktion hervorruft, da zeigt Dumont, dass da etwas Unsichtbares mitschwingt, etwas Unkontrollierbares, etwas Unerwartetes und das darin die Qualität von Filmen, ja von Kunst allgemein liegt. Nicht umsonst zitiert Dumont immer wieder Maler. Denkt man etwa an Francis Bacon wird der Begriff von der Deformation plötzlich plastischer. In den deformierten Gesichtern des Malers liegt eben jene Grenze zwischen naturalistischer Darstellung und einer Veränderung, die das Menschsein in Frage stellt und eine tiefergehende Reflektion erst auslöst.

Twentynine Palms von Bruno Dumont
Die Überlegenheit eines solchen Kinos, zu dem natürlich viele Filme zu zählen sind, gegenüber eines Kinos der Schönheit oder eines Kinos der Spannung oder einer Neuauflage eines Kinos der Attraktionen, wie es derzeit in vielen Hollywood-Blockbustern zu finden ist, liegt auf der Hand. Das Kino der Deformation greift über seine bloße Existenz im Kinorahmen hinaus. Das, was man als die Zeit mit dem Film betrachtet, wird aufgelöst, weil der Film ins reale Leben einzudringen vermag. Statt das Fehlen einer Fluchtmöglichkeit als unbequem zu betrachten, sollte man diese Form auf den höchsten aller Podeste stellen, weil hier kommt Film dazu sein Potenzial jenseits eines lauten Unterhaltungsmediums auszuschöpfen. Es geht auch gar nicht darum, dass dieses Kino zwangsläufig ein intellektuelles Kino sein muss. Gerade bei Dumont spielt Körperlichkeit und die Rauheit des Daseins eine wichtige Rolle. Alles ist verständlich und nie verkompliziert. Gerade in der Direktheit liegt ja das bedrohliche Element in seinem Kino. Oft muss Dumont gar nicht mehr deformieren, weil er Menschen in einer derartigen Direktheit zeigt, dass dies schon fast unsere Schamgrenzen übersteigt und dadurch als deformiert wahrgenommen wird.

Valhalla Rising von Nicolas Winding Refn

Das Schauspiel scheint mir dabei mit am leichtesten deformierbar zu sein. Die Verweigerung des Ausdrucks und die subtile Psychologie, die nicht nur laut Dumont in der Nahaufnahme zum Vorschein kommt, sind fester Bestandteile aller schauspieltheoretischen Diskurse. Der Wille des Zusehers zu lesen, was da in den Figuren vorgeht, die Möglichkeit in Filmen Dinge/Menschen länger und intensiver zu betrachten als im normalen Leben, geben dem Kino kein Recht als Abbild der Realität sondern sogar mehr, als intensivere Wahrnehmung der Realität. Und nur darin kann und soll eine Deformation sichtbar werden. Derzeit steht Nicolas Winding Refn hoch im Kurs, insbesondere beim jüngeren Kinopublikum. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass er Wahrnehmungen deformiert. Zunächst deformiert er das Aussehen und das Spiel seiner Charaktere. Sie erwidern nicht jene Emotionen, die man normal aus Filmen gewohnt ist. Und in diesem „normal“ steckt auch schon seine zweite Deformation, denn Refn deformiert, was man normalerweise von einem Genre erwarten wurde, durch seine Montage, die zum Teil surreal-assoziativ durch die weiten nordischen Welten eines „Valhalla Rising“ oder durch thailändische (rote) Interiors von „Only God Forgives“ schneidet, durch seine Verzögerung der Zeit in der Mise-en-scène, die etwas zu suchen scheint in den Szenen, was dort gar nicht ist. Die Kamera scheint immer wieder von neuem auf die Charaktere zuzufahren, die Räume zu betrachten, Blicke zu erhaschen. Das für die diversen Genres, die Refn (nicht) bedient klassische Spannungsmoment fällt. Fast gegenteilig, aber mit einem ähnlichen Hang zur Deformation arbeitet(e) der amerikanische Regisseur Steven Soderbergh. Bei ihm wird Genre gebrochen, indem er das Tempo beschleunigt. Auch er scheint die Erwartungen des Publikums zu kennen und  im Gegensatz zu Refn bedient er diese sogar häufig, aber er arbeitet fast ausschließlich mit Andeutungen und geht dann in der Montage schon eine Szene weiter. Wenn in „Haywire“ jemand verraten wird, dann vermag er in dem Moment in die Action zu schneiden, indem dem Zuseher klarwerden konnte, dass es sich um Verrat handelt, ohne dass Soderbergh es aussprechen musste. Fast wie ein Jazz-Musiker kann er sich so in unheimlicher Geschwindigkeit verschiedenen Motiven immer ein bisschen, nie aber ganz hingeben. Die schnell geschnittenen Actionfilme der vergangenen Jahre versuchen diese Genrebrüche seltsam unreflektiert auf einer formellen Ebene zu bedienen. Unreflektiert, weil durch die Handkamera und schnellen Schnitte ein gesteigertes Maß an Realität hergestellt werden soll, statt damit die Realität zu deformieren. 

Jerichwo von Christian Petzold

Erstaunlich dann, wenn im deutschen Kino nach Genres geschrien wird. Betrachtet man Christian Petzold als den vielleicht interessantesten Genre-Regisseur in Deutschland dann deshalb, weil er seine Genres deformiert. In einem klassischen Melodram wie „Jerichow“ schwingt immer  eine andere Bewegung mit, fast als wären Genres Drifterfilme bei Petzold. Er wirft einen individuellen Blick auf das Genre, legt seinen Fokus oft auf unerwartete, widersprüchliche Emotionen. Aber Petzold geht es dabei wie Dumont. Wenn jemand eine Hand betrachtet, obwohl er gerade eine Sexszene sieht, dann spricht man schnell von toten Handlungen, toten Charakteren und Film sei doch Handlung und blabla. Für mich ist Film in erster Linie Bild und Ton. Diese formen eine Geschichte, Charaktere, ein Gefühl. Ob dabei gehandelt wird oder geschaut wird, erscheint mir zweitrangig. Nicht umsonst hat Deleuze ja schon vor langer Zeit den beobachtenden Protagonisten im Neorealismus ausgemacht. Egal ob ein objektiver Blick auf das Geschehen geworfen wird oder ein nach Anteilnahme schreiender, scheint mir der Blick auf die blickende Figur mindestens von gleichem Interesse zu sein wie der Blick auf die handelnde Figur. Zweites nimmt mich vielleicht mehr gefangen, aber ersteres bringt mich zum Nachdenken und hat das weitaus größere Potenzial zur Deformation. Natürlich kann eine Handlung auch ein Automatismus sein. Dann sind wir beispielweise bei den Dardenne-Brüdern oder bei einem Olivier Assayas oder Cristi Puiu. Hierbei tritt die Fähigkeit zum Vorschein in alltäglichen Bewegungen in einen Denkprozess zu gelangen, weil man sich nicht mehr aus den Bewegungen befreien kann und weil man sich nicht darauf konzentrieren muss. In „Rosetta“ bewegt sich die Protagonistin praktisch den ganzen Film. Dennoch sind es fast ausschließlich innere Bilder, die das Regie-Duo inszeniert. Das innere Bild ist jenes zu 
dem die Regisseure gelangen, wenn sie ihre Bilder deformieren.

Rosetta von Jean-Pierre und Luc Dardenne
Wie lächerlich erscheint es da, dass an der Filmhochschule in München nach mehr Genreaffinität bei den Studenten verlangt wird. Es gibt immer noch junge Leute, die Kino machen wollen! In Deutschland, liebe Leute, gibt es keine Genretradition. Wozu also dieser Schrei nach: „Es muss wieder mehr Genre geben.“ Die wichtigen deutschen Regisseure seit dem 2.Weltkrieg waren meist keine Genreregisseure. Natürlich sind wir amerikanisch geprägt, natürlich darf und soll man Genre im Kino machen, aber die Realität (auch für Dominik Graf und eben Petzold unter anderen) ist, dass man Genre im Fernsehen macht. Das muss nicht schlimm sein und qualitativ schlechter als Genre im Kino, aber ein Regisseur, der Kino machen will und darf, sollte sich darum bemühen Genres zu deformieren, nein eigentlich die Realität zu deformieren und in diesem Zusammenhang gibt es keine Genres, womöglich sind wir dann beim Autorenfilm, der lächerlicherweise in Frage gestellt wird. Wenn ein Filmemacher wie Thomas Arslan mit seinem wunderbaren „Im Schatten“ straightes Genrekino liefert, dann deformiert er es. Nicht unbedingt auf eine Dumont-Art, sondern in dem er ein Genre bedient, das eigentlich tot ist und es trotzdem in der Geschwindigkeit und dem Rhythmus inszeniert, in dem es einst bei Regisseuren wie Jean-Pierre Melville zu finden war. Damit deformiert er die Erwartungen und schließlich die Wahrnehmung selbst. Was ist also gewonnen, wenn junge Studenten sofort Richtung Tatort gehen? Sicherlich kein deutsches Kino.

Offret von Andrei Tarkowski
Andrei Tarkowski hat in seinen Filmen nicht nur die Menschen oder das Menschliche an seinen Schauspielern deformiert, sondern die gesamte Natur. Er hat das zum Teil  mit einer ähnlichen Direktheit gemacht, wie Dumont seine Figuren in Widersprüche setzt. Bei Tarkowski gehorcht die Natur oft nicht ihren eigenen Gesetzen. Es gibt Erdbeben, plötzliches Feuer, Menschen, die keine Schwerkraft mehr besitzen. Das setzt den Zuseher in einen ständigen Zustand des Zweifels, ja der Angst. Tarkwoski dringt in die Wahrnehmung ein, weil auch er innere Bilder produziert, die nicht unbedingt denen eines Protagonisten zu entsprechen haben, sondern durchaus auf eine Weltanschauung des Filmemachers hinweisen. Damit wären wir wieder bei der Malerei. Damit wären wir wieder bei der Lächerlichkeit des Hinterfragens von Autorenschaft im Film. Das innere Bild scheint mir immer ein deformiertes Bild zu sein, weil es wie durch ein Filter durch die Wahrnehmung der Figuren, des Filmemachers und schließlich die des Rezipienten läuft. Dumont sagt, dass wenn er eine Wüste filmt, dann filmt er nicht die Topographie einer Wüste, sondern das innere Bild dessen, der sie betrachtet. Und damit kommt man dann dem Wesen von Film näher, denn im Inneren ist alles Bild und Ton und der Versuch zur Reflektion muss schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt sein.  Deformation wird oft mit Surrealismus in Verbindung gebracht. Luis Buñuel und David Lynch sind schließlich auch in einem scheinbar durchgehenden Prozess der Deformation involviert. Aber bei ihnen setzt oft die Verortung des deformierten Geschehens in eine naturalistische Umgebung aus (bei Lynch deutlich mehr als bei Buñuel ) Der spanische Regisseure scheint mir immer dann am besten zu seiner Sprache zu finden, wenn er in völlig naturalistischen Situationen ein deformiertes Element, wie beispielweise den mysteriösen Kasten in „Belle de jour“ bringt. Wenn die ganze Umgebung von einer Deformation durchdrungen ist, wie in „Inland Empire“ von Lynch, dann nimmt man den Film selbst nicht mehr als Steigerung der Realität war, sondern eigentlich wieder als ein Kino der Attraktionen, indem der Film nicht in den Zuseher einzudringen vermag, wie er nicht in seine Figuren eindringt.. Und genau dort liegt die große Versuchung des David Lynch.

Inland Empire von David Lynch

Eigentlich muss ich meine Anfangsaussage bezüglich eines Kinos der Deformation als überlegene Form revidieren. Das Kino der Deformation ist das genuine Mittel, um mit dem Kino innere Bilder zu produzieren und es damit auf die höchste Stufe, dessen was heute mit kinematographischer Sprache möglich ist, zu heben. Denn nur wenn die äußeren Bilder auch innere Bilder sind, wenn man unter der Oberfläche etwas erkennen kann, kann sich Kino völlig entfalten.

Belle de jour von Luis Buñuel

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